Ein würdevoller Abschied

Von edith-aleit

November 5, 2020

Abschied, Sterben, Tod und Trauer

„Diejenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, sie haben nicht aufgehört, da zu sein, nur unsere Augen haben aufgehört, sie zu sehen; sie aber sind da.“ – Rudolf Steiner – Quelle

Kurz nach Mitternacht klingelte das Telefon: „Ich wollte Dir sagen, daß Deine Mutter vor fünf Minuten eingeschlafen ist!“ –

WAS?!!! –

Es folgte ein kurzer Bericht: er war dazugekommen, wie sie schwer atmete, hatte sich zu ihr gesetzt und sie beruhigt, bis sie in seinen Armen eingeschlafen war. –

??? –

Und ich? Ich hatte es ÜBERHAUPT nicht kommen sehen! Es nicht geahnt!!! War mit ganz anderem beschäftigt gewesen… Wie bitter!! Welch ein Schmerz! — Zum Glück hatten wir sie gestern noch besucht! Hatten uns gestern verabschiedet ohne die leiseste Ahnung, daß dies das letzte Mal sein würde… – – –

Als wir in das Zimmer traten, empfing uns eine friedvolle Atmosphäre. Eine Kerze brannte auf dem Tisch, das Johannes-Evangelium lag aufgeschlagen daneben. Das Fenster war einen Spalt geöffnet und die Jalousie so weit heruntergelassen, daß der Sonnenschein von draußen noch hereingrüßen konnte. Die Mama lag auf ihrem Bett, als habe sie sich nur kurz zur Ruhe gelegt, doch sie regte sich nicht. Auch nicht der leiseste Atem hob sanft ihre Brust, solange ich darauf auch wartete…
Kater Iwan saß neben ihr, sah sie unverwandt an, mauzte und verstand nicht, warum sie, die immer mit ihm sprach, nun schwieg, nicht einmal reagierte… Er schlich um sie herum, setzte sich auf sie, mauzte und sah sie fragend und verständnissuchend an. Wie erklärt man ihm das, was man selbst nur ganz langsam begreifen lernt?

Wir setzten uns zu ihnen, und mein Stiefvater berichtete noch einmal den Hergang heut´ Nacht und was er alles schon erledigt hatte. Seufzer entrangen sich uns immer wieder, zu ungeahnt war der Tod in unser Leben getreten. – Natürlich wußten wir, wie krank sie war. Seit Jahren war ich dankbar für alle Zeit und Gelegenheit, die wir miteinander hatten. Und doch: warum gerade jetzt? Mehrmals schon war sie dem Tode sehr nahe gekommen. Vor einem Jahr war es so schlimm, daß sie uns später sagten: einen weiteren Krankenhaus-Besuch werde sie ablehnen und jedes weitere Geschehen annehmen… Sie wußte nur zu gut, wie sich ein Erstickungstod anfühlte… Und trotzdem saßen mir Schmerz und Unverstand so tief… –

Abwechselnd lasen wir das Evangelium vor, sprachen miteinander, trösteten den Kater und suchten die Situation zu begreifen.
Mein Stiefvater verabschiedete sich früh: er hatte die letzten Nächte kaum geschlafen, und morgen erwartete uns ein anstrengender Tag. Ich saß und las noch eine Weile, dann verabschiedete ich mich von Mama und Iwan und ging meinen Mann suchen, der aufgrund eines eigenen Erlebnisses nicht ins Haus kommen mochte und auf seine Weise von ihr Abschied nahm. Wir machten einen Spaziergang durchs Dorf, kehrten kurz in ein Gartenlokal ein und atmeten die laue Frühlingsluft: Jetzt, da es endlich wärmer wurde, hatte sich die Mama auf den Weg gemacht… – Im hinteren Teil des Gartens hatte mein Telefon endlich Empfang und ich konnte meine Schwester erreichen. Sie war gerade im Urlaub an der See… Auch sie hatte die Nachricht kalt erwischt… Es war ein kurzes Gespräch: was sollte man auch sagen??? Sie kämen morgen dazu, dann verabschiedeten wir uns.
Auch wir gingen zeitig zu Bett, hatten ja ebenfalls kaum geschlafen.

In der Nacht stand ich auf und ging zu ihr: ich wollte wenigstens eine Zeitlang Totenwache halten.

Mama lag ungewohnt reglos auf ihrer Tagesdecke. Iwan saß immer noch neben ihr, sie unverwandt anschauend.
Ich setzte mich zu ihnen, streichelte Iwan, sprach ihm zu und las das Evangelium weiter vor. – Wir vertreten die Ansicht, daß das Johannes-Evangelium besonders geeignet ist, den Verstorbenen auf seinen ersten Schritten in die uns wenig bekannte geistige Welt zu geleiten. Dazu gibt es hilfreiche Gebete und Meditationen; hilfreich für den Hinübergehenden ebenso wie den Hierbleibenden. –
In eine warme Decke eingewickelt betrachtete ich meine Mutter, versuchte ihre Anwesenheit zu erfühlen, bemühte mich zu hören, ob sie mir etwas mitteilen wolle. Es gelang mir nicht, in die nötige tiefe Ruhe zu kommen. Zu intensiv war der Schrecken, daß sie „nicht mehr da war“. – Natürlich war sie da. Sie würde immer da sein, eben nur nicht so wie gewohnt… Doch das wollte erst einmal begriffen sein! –
Ich haderte mit meinem Schmerz und dem deutlichen Empfinden, daß mein Egoismus ungerecht war, denn sie war schon so viele Jahre schwer krank gewesen und dieser Zustand jetzt ihre Erlösung von allem physischen Leiden. Und sie hatte gelitten!!! Sie hatte immer wieder berichtet, welche Erstickungserlebnisse sie infolge der Herzrhythmus-Störungen, der Blutdruckschwankungen und des verlangsamten Pulses durchlebte. Nie wieder wollte sie einen Herzkatheder erdulden und die unangenehmen Therapien, die nur kurzzeitig Linderung gebracht hatten. Sie gedachte, den Tod zu begrüßen, wenn er wieder an sie heranträte… So schlimm war es gewesen! Immer wieder. – Wie kann ich nun hier sitzen und jammern um meine Mutter, die ihres Leidens nun endlich ledig ist?! –

Ich jammere ja, weil sie von mir gegangen ist, weil unsere Zeit miteinander so kurz war! –
Ja, es ist doch aber wunderbar, daß wir diese Zeit erleben durften, daß wir zueinander fanden! –
Ja, das ist wahr! Ja, so will ich es sehen und annehmen. Trotzdem: es tut so weh… –
Ich spürte deutlich, daß meine Mutter mich liebend umfing: Das spendete mir allertiefsten Trost! –
Ich tastete nach ihrer Hand und wunderte mich, wie kalt sie war. Sie fühlte sich viel kälter an als der kühle Raum, der uns umgab. Verdunstungskälte, dachte ich.
Ich wurde mutiger und nahm ihre Hand. (Bislang hatte ich mich immer gefürchtet, Tote zu berühren… Ausgerechnet ich, die doch schon viele Tote gefunden hat…)

Mein Blick glitt über ihren Leichnam hinweg: Sie sah schön aus, auch ihre Fußnägel schienen frisch lackiert. – Meine Mutter hat immer sehr auf ihr Äußeres geachtet und hatte sich absolut im Griff. Niemals war sie nachlässig mit sich, nicht einmal jetzt: sie schien sogar ihren Kiefer unter Kontrolle zu haben und hielt ihren Mund fest geschlossen.
Sie wirkte schlafend, nicht tot.
Immer wieder hatte ich das Bedürfnis, sie zuzudecken: ihr muß doch kalt sein, dachte es in mir… –
Ihr Gesicht wirkte dezent geschminkt…
War das ein Effekt des lebenslangen Schminkens, der nun nachwirkte? Sie sah wirklich schön aus!

Mit der Zeit machte ich meinen Frieden mit der Situation.
Iwan saß inzwischen auf meinem Schoß, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.
Wir kämpften beide, rangen beide um Frieden mit dem, was nun war.
Vieles ging mir durch den Kopf. Meine Kindheit und Jugend. Erlebnisse. Zerwürfnisse. Erzählungen.
Sie hatte so herzerfrischend und ansteckend lachen können…
Und wenn wir erst ins Sächseln kamen! Wir haben uns in der Straßenbahn ausgeschüttet vor Lachen! Die Meinung der Leute um uns herum störte sie nicht. Im Gegenteil… –

Dann kam ein Punkt, an welchem plötzlich alles in Ordnung war: Frieden zog ein.
Iwan mauzte kurz auf, löste seinen Blick von ihr und rollte sich auf meinem Schoß ein: er hatte es überwunden.
Auch für mich war nun alles in (der) Ordnung.

Ich blieb noch eine Weile sitzen, dann ging ich wieder schlafen: der kommende Tag hielt noch viel Arbeit für uns bereit.
Bevor die Gäste kamen, mußte alles hergerichtet werden… –

Am nächsten Morgen trafen wir uns zum Kaffee und besprachen den Tag. Wir bereiteten alles für die Trauerfeier vor, saßen zwischendurch immer wieder bei ihr, lasen aus dem Evangelium vor und erzählten einander Erinnerungen.

Nach und nach stellten sich die Trauer-Gäste ein, meine Schwester kam mit ihrem Mann, auch der Pfarrer aus Berlin mit seiner Frau.
Alle bewunderten Mamas friedliche Gesichtszüge und den Umstand, daß sie ihren Mund unverändert geschlossen hielt. Meine Schwester brachte Blumen mit und legte sie ihr in die Hände. So, wie sie da lag, war sie schön. Es gibt keinen anderen Ausdruck dafür! –

Wir sprachen über das Vorgefallene, erzählten Begebenheiten aus unserer Kinderzeit und Jugend; jeder sprach von seinen Erinnerungen mit ihr und irgendwie war der Pfarrer immer in der Nähe… Erst später fiel mir auf, daß er sich Notizen machte, um seine Trauerrede so persönlich als möglich gestalten zu können.

Der Zeitpunkt für die Aussegnungsfeier kam. Der Pfarrer kleidete sich um; wir richteten die Tote und das Zimmer her. –

Die Anwesenden versammelten sich vor M.O.R.s Totenbett. Es trat Stille ein.
Der Pfarrer betrat mit der Ministrantin den Raum, vollzog die Aussegnung aus der Gemeinde und fand warme, wohltuende Worte des Trostes für alle.
Ein weiteres befreundetes Paar kam in unsere Runde.
Nach der Zeremonie zog meine Schwester ein Brieflein hervor und sprach von ihrem Leben mit ihrer Mutter, vom Umzug nach Berlin und die Zeit danach. Ihre Worte beleuchteten ihre und auch meine Vergangenheit in einem neuen, einem friedlichen Licht und gefielen mir sehr.
Mein Mann begleitete den Vorgang aus einiger Entfernung.
Nach einem schönen Lied lief die zuletzt angekommene Freundin zum Totenbett und herzte und küßte die Verstorbene. Unter Tränen beklagte sie den Verlust ihrer einzigen Freundin, die sie in Deutschland gefunden habe. (Sie stammt aus der Sowjetunion, und ich dachte darüber nach, wie kulturell unterschiedlich doch der Umgang mit Verstorbenen ist…) Nun fand auch ich endlich den Mut, die Verstorbene ohne Scheu zu berühren, und küßte und umarmte sie zum Abschied ebenfalls.

Dann klingelte es: die Bestatter kamen.
Sie trugen einen schlichten, schönen hölzernen Sarg herein.
Es tauchte der Gedanke auf, daß wir unsere Tote selbst in den Sarg legen. Gedacht, getan. Wir hoben sie gemeinsam mit der Decke, auf der sie lag, an und in den Sarg hinein, und schmückten sie wieder mit Blumen. Meine Schwester hatte ihr den Brief mit ihren Abschiedsworten in die Hand gesteckt samt einem Stein, den sie am Todestag am Strand gefunden und jeder von uns dreien einen mitgebracht hatte.
Herr Pfarrer K. sagte, es sei wichtig, daß wir nun auch den Deckel aufsetzten und verschlössen… Wir sahen ihn fragend an, taten aber nach seinem Geheiß. Und tatsächlich: es gab plötzlich einen Widerstand! Der Deckel ließ sich nicht einfach so verschließen: wir mußten bewußte Kraft dazu aufwenden…

Anschließend traten alle beiseite, die Sargträger nahmen den Sarg auf und trugen ihn aus dem Haus – durch unsere Reihen hindurch. Und jetzt wurde offenbar, weshalb wir vor zwei Tagen den Impuls gehabt hatten, den Weg zu säubern: für diesen ihren letzten Gang.

Der Sarg wurde im Auto verstaut, fuhr ab und alle winkten ihr nach…
Wie überaus seltsam!
Bisher war es immer anders herum gewesen: Immer stand sie am Tor oder am Fenster und winkte uns nach… –

Als der Wagen unseren Blicken entschwunden war, gingen wir in den Garten, setzten uns zu Speis´ und Trank zusammen und sprachen über die Verstorbene und unsere Zeit mit ihr. –
Als der erste aufbrach, verabschiedeten sich alle: der Heimweg war weit.


Die nächste Veranstaltung verlief ohne mein Beisein: die Toten-Weihehandlung in ihrer Berliner Gemeinde. –

Wir trafen uns wieder zur Trauerfeier am Sarg im Krematorium Baumschulenweg.
Die Feier fand im kleinen Saal des großen Gruselgebäudes statt (ich finde diesen Bau ausgesprochen häßlich; er strömt etwas Unangenehmes aus und meine Schwiegermutter empfand ihn in höchstem Maß „grausig“) – unter schon herrschenden „Corona-Bedingungen“ mit Maskenpflicht. Wie absurd…

Die große Fensterfront mit Blick auf die frühlingshaft zart begrünten Bäume und der große Strauß blutroter Rosen entschädigten Auge und Gemüt.
Musiker aus der Gemeinde saßen in einem Nebenraum und spielten besinnliche Melodien.
Pfarrer K. hielt eine mich überaus beeindruckende Rede: er fand passende Worte für alle an Mamas Leben beteiligten Menschen und vermochte es, die beiden Leben der M.O.R. friedvoll zu vereinen und der jeweils anderen Partei Einblicke in ihr Leben zu vermitteln. Es war eine Rede, die ich neidlos (ob der Zeiten ohne mich) annehmen konnte. Er fand auch die passende Worte zu ihrer verhinderten künstlerischen Laufbahn: daß sie ihr Talent zu wandeln vermocht hatte und die Fähigkeit erlangte, schwerst geistig behinderte Menschen zum Malen anzuregen – in einer Weise, die in ihnen tiefste Zufriedenheit über ihr Werk auslöste.

Ich habe noch nie eine so würdevolle und dem Toten entsprechende Rede gehört!!! (Und ich erlebte schon einige…)

Zum Abschluß las ich Goethes „Geister über den Wassern“ vor, ein Gedicht, von dem meine Mutter gewollt hatte, daß ich es zu meines Vaters Beisetzung vortragen sollte. Noch kurz vor ihrem Tod hatte sie mir erklärt, wie bedeutsam dieses Gedicht für einen Verstorbenen sei.

Anschließend fuhren wir in die Stadt in eine schöne Bar, wo wir mit weiteren Freunden eine sehr schöne Gedenkfeier hatten: es gab Fotos zu betrachten und nach dem Essen berichtete jeder aus seinem Erinnerungsschatz von Begebenheiten mit der Verstorbenen. Dabei trat viel Neues zutage, wir konnten herzlich lachen, und es wurde ein für alle bereichernder sehr schöner Tag.

Die Urnenbeisetzung fand einige Wochen darauf statt: an einem regnerischen Tag. Während wir sie zu Grabe trugen, schien jedoch heller Sonnenschein.
Unter Vogelgesang bestatteten wir unsere Mutter, Großmutter, Ehefrau und Freundin und beendeten das Geschehen mit Gebet und Gesang.

Im nahegelegenen Café saßen wir anschließend in angeregten Gesprächen beisammen und ließen das Geschehnis würdevoll ausklingen. Bevor wir auseinandergingen, verabredeten wir uns zu einem Treffen anläßlich Mamas bevorstehenden Geburtstages.

Auch dieses Treffen wurde zu etwas ganz Besonderem:

Im Vorfeld suchten wir all ihre Bilder und Grafiken zusammen, die wir finden konnten, und es kam viel mehr zutage, als wir gedacht hatten!
Es wurde eine sehr schöne Ausstellung! Meine von allen als anwesend gefühlte Mutter schien selbst erstaunt zu sein, wie viel doch zusammengekommen war…
Mein Schwager hatte seine gute Kamera mitgebracht und den Auftrag angenommen, alles zu fotografieren.

Seither steht die Idee im Raum, aus den vielen schönen Arbeiten, unter denen sogar einige Bilder mit den sog. Schützlingen gefunden wurden, eine kleine Webseite zu gestalten.

Alle hier veröffentlichten Bilder wurden von Rita Morgenstern/Rita Holland gemalt.

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